Alter Wimpel mit gezeichneter Rheinansicht

franzi geht dann heim – Zwischenblick lll

Ich muss nicht nachschauen, wie viele Tage ich nun unterwegs bin. Mein Körper sagt es mir: es ist Tag Sechs, an sich Zeit für eine Pause.

Das gestaltet sich allerdings als gar nicht so einfach, denn in meinem anvisierten Zielort ist leider kein Zimmer frei, und außerdem bin ich ob der wirklich gnadenlosen Hitze in den vergangenen Tagen zwar jeden Tag – und  das mit größter Freude – gelaufen, aber zum Teil andere Routen, kürzere Etappen.

Also dauert es noch zwei weitere Tages-Etappen, bis nun an Tag Acht wirklich der ersehnte Pausentag im hübschen Winzerhof Schmitt in Appenheim seinen wunderbaren Anfang mit einem reichhaltigen Frühstück im Innenhof genommen hat.

Es wird wirklich dringend Zeit, all diese Eindrücke und Erlebnisse und Gespräche und Wege der vergangen acht Tage zu sortieren, quasi als Anker für meine pilgernde Seele. Ich kippe zum Teil schon sehr aus dem Alltagserleben raus und lausche den verschiedensten Stimmen, die da in den Wäldern und Seen, Flüssen und Klippen raunen.

Auf heute gilt: Rechtschreibung, Satzbild, Verlinkungen und Feinschliff folgen zu einem späteren Zeitpunkt. Also los geht‘s. Der Blick zurück:

Tag 13: Remagen – Andernach

Pension Vanoli war wirklich nicht nur vom Namen her ein entzückender und erholsamer Ort. Dass mein Pensionswirt Schuhgröße 50 hat und passende Rollschuhe aus den 80ern, Original aus San Francisco, im Flur stehen ist nur eines von vielen reizenden Details.

Original Rollschuhe, oder Discoroller, genau mein Ding. Inliner sind nichts für mich

Ich breche auf, besuche die Kirche, singe erst ein „sakrales Ständchen“ und danach spontan mein erstes „Lied des Tages“, nämlich „Am Brunnen vor dem Tore“, durch die gegebene Kulisse angeregt. Diese „Lieder des Tages“ wird es fortan dann auf Instagram und Facebook zu hören und sehen geben. So wie die täglichen Kurzberichte, siehe auch #franzigehtdannheim

So will ich’s also weiter handhaben: Singen, wann immer und wo immer es mir zu Mute ist. Spannend, welche Lieder da aus Seelentiefen auftauchen und sich da langsam ein Soundtrack meiner Pilgerreise herausschält.

Ein Kirchgesang am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen

Ich entscheide mich, ein Stück Strecke, nämlich bis Brohl, mit dem Zug zu fahren. Vor dem Bahnhof steht ein Bücherschrank und mein Hirn denkt sich: Ach, wär doch schön, wenn ein Büchlein über den Heiligen Franziskus dabei wäre …“ Was soll ich sagen, Zack! Schmales Bändchen, perfekt für den Rucksack. Das rechte Wünschen ist eine hohe Kunst.

Passende Lektüre zum Franziskus-Kreuz, das mir Bruder Dirk in Beyenburg mit auf den Weg gab

Der Weg ab Brohl hat wahrlich alpine Qualitäten, sehr steil, teils auf dem nackten Felsen, seilversichert und auf beiden Seiten senkrecht runter. Krüppeleichen säumen meinen Weg, ich bin begeistert. Endlich auf dem Hochplateau angekommen, verändert dich der Eindruck schlagartig: Ich stehe mitten im Lava-Basalt-Steinbruch eines ehemaligen Vulkans, „Hohe Buchen“ heißt der Ort. Und wirklich, jetzt sind’s Buchen, statt Eichen.

Die Schautafeln erzählen eine lange Geschichte vom Ausbruch und der Geologie, von der Nutzung der Römer, die mit diesem Gestein nicht nur die Koblenzer Brücke bauten, sondern auch von der wechselvollen Nutzung bis ins 18. Jahrhundert. Die Energie hier ist eindrucksvoll. Stärke Kräfte aus dem Erdinnern eben. Drachenkräfte.  Ich rechne jeden Moment mit Flugsauriern.

Eine von vielen Überraschungen auf dem Weg: ich stehe auf einem Lavasee.

Nach verlassen des Waldes geht es über Felder hinunter nach Namedy. Auf diesen Ort hatte ich mich gefreut, allein der Name klingt irgendwie aristokratisch, außerdem hatte ich von den Schlosskonzerten gehört. Was soll ich sagen: Namedy  – das wurde an dem Tag nix mit uns beiden. Kirche geschlossen. Einziges Café und Stempelstelle am Ort – seit Monaten geschlossen. Schloss – nicht zu besichtigen, noch nicht einmal eine Postkarte konnte ich erstehen.

Dafür hatte ich ein tolles Gespräch mit fussballspielenden Jungs auf dem Schulhof. Wieder einmal ist es mein Pilgerstab, der das Interesse weckt. Die Fragen sind unverstellt, warm und herzlich interessiert. Mütter kommen um die Ecke, eher skeptisch – vielleicht ist meine Erscheinung allmählich „landstreicheresk“. Landstreicherin. Ja, damit fühle ich mich sehr wohl, vielleicht sogar „Landstreichlerin“ – mit jedem Schritt, jedem Tritt eine Berührung ein Gebet für Mutter Erde, die sich mir auf dieser Reise in all ihren feinen Wandlungen und Veränderungenzeigt. Anfangs noch Holunderblüte, dann Lindenblüte, dann Kirschen …

Ich schleppe mich nach Andernach. Bekomme ein Pilger-Zimmer im Nikolausstift. Früher Kloster, heute Krankenhaus. Wirklich toll und eindrucksvoll, welch unterschiedliche Schlafstätten ich erleben darf.

Die prächtige Kirche am Nikolausstift

Zur heiligen Messe in der Kirche Mariä Himmelfahrt traue ich mich zum ersten Mal, am Abendmal teilzunehmen. Für mich selbst friedliches Zeichen, auf welchen Wegen ich mich mit meiner christlich evangelischen Taufe und Konfirmation aussöhne. Mein Franziskus-Büchlein liegt auf dem Nachttisch im Nikolausstift.

Tag 14: Andernach – Koblenz

Der Tag beginnt mit einer interessanten Frühstückserfahrung im Krankenhaus-Café. Außer mir sind nur ein paar übernächtigte Pflegepersonals-Menschen da. Ich bin von der Selbstbedienungs-Theke überfordert und verstehe nicht, wie ich an die einzelnen Dinge komme – verliere ich Alltagshirnkapazitäten? Bin ich noch gesellschaftstauglich? Wenn ja, was will ich davon überhaupt noch sein, repräsentieren, erfüllen, auf mich nehmen?

Im Tante Emma Laden um die Ecke gibt es dafür wieder ein Geschenk der menschlichen Begegnung: die Verkäuferin ist ein Musterbeispiel für Humor, Geduld und Zugewandtsein, wie sie da zwischen Milch und Käse, Toilettenpapier und Waschmittel, Edelkonfekt und Stickgarn thront.

Beruhigend, solchen Menschen begegnen zu dürfen, und extrem witzig noch dazu

Andernach ist wirklich besuchenswert mit seiner uralten Geschichte und Architektur, die noch heute die Römer erahnen lassen. Völlig zurecht mehrfach ausgezeichnet als essbare Stadt, gedeiht hier Granatapfel neben Feige an der Stadtmauer. Statt Blumenrabatten gibt es Himbeeren und Johannisbeeren – alles für jederfrau zu ernten. Vorbildlich und wunderschön anzusehen!

Toll, dass sich die Stadtreinigung farblich sogar auf die Granatapfelblüte abstimmt

Den Geysir werde ich mir ein andermal ansehen. Die Touristen-Führung durchs Erlebniszentrum, um denn mit dem Schiff zur Besichtigung dieses Naturereignusses geschippert zu werden, das passt gerade nicht zu mir und meinem Weg.

Überraschend schnell finde ich mich auf freiem Feld wieder. Ewig weite Kornfelder, und die Sonne steigt. Irgendwann beginnen sie, die Kirschfelder. Mühlheim-Kärlich hat wirklich prächtige Kirschplantagen und rühmt sich selbst mit dem Lied „Mir han die deckste Kirsche“ – sicher auch zurecht. Lied des Tages wird Carla Brunis Le temps perdu, von wegen der Zeit der Kirschen und der Rosen, die sie darin besingt.

Eine Pracht.

Dann wieder Felder, unerbittlich heiß wird es. Bei einer fast komatösen Pause unter dem einzigen Walnusbaum weit und breit beschließe ich, meine heutige Tour nur noch bis zur nächstgelegenen Eisdiele zu führen, die glücklicherweise nicht weit, direkt an meinem Weg, am Ortseingang von Koblenz liegt. „Eiszeit“ ist der Name, und wieder jubeln ein paar Mädchen bei meinem Anblick, das heißt, beim Anblick meines Stabes: „Das ist der schönste Stock, den ich je gesehen habe!“ Finde ich ja auch.

Zur Feier des heißen Tages: Amarenabecher de luxe

Der Tag endet sehr bald und sehr erschöpft nach kurzem Biergartenaufenthalt am Deutschen Eck. Zu viele Menschen, zu viel Stadt, und vor allem zu viel Hitze. Diese Kombination bekommt mir gerade gar nicht gut. Auch diese zweifellos schöne Stadt werde ich mir bei anderer Gelegenheit genauer ansehen.

Tag 15: Koblenz – Rhens

Der Start am Rheinufer Koblenz-Oberwerth lässt mich schon am Duft erahnen: die Landschaft verändert sich wieder. Ich ahne das Mittlere Rheintal mit seinen steilen Kluften und Ufern. Schnell geht es in den Wald und da bleibe ich heute über sehr weite, angenehm kühle Strecke.

Wilde Wege. Und längst nicht alle führen sie nach Rom

Meine Gedanken fließen dahin und ich stelle fest, dass ich mehr und mehr nach vorn schaue, dass es wahrscheinlich kein Zurück mehr gibt zu dem, wie es davor war. Was das genau bedeutet, werde ich in den kommenden Kilometern und Tagen und Wochen erpilgern.

Der Wald tut mir so gut – wem nicht! Irgendwann sehe ich ein Abzweigschild „Zum Merkurtempel“ und ich spüre, das lockt mich sehr. Nach reiflicher und sehr vernünftiger Überlegung streiche ich diese Sonderschleife allerdings, denn ich habe Respekt vor dem noch laufenden Weg. Bleibe also beim Jakob, nix mit Merkur und Götterbote und so weiter.

Zum Ende der Etappe geht es dann doch ein heißes Stück über Felder, aber am Ende wartet ein reizender Kirschverkäufer. Unfassbar pralle, saftige, tiefschwarze und Süße Kirschen mit dem passenden Namen Sweet Heart. Ich erfahre Einiges über die Kirsch-Ernte im Allgemeinen und diese im Speziellen und genieße diese Götterfrüchtchen dann im kühlen Schatten beim Jüdischen Friedhof oberhalb von Rhens.

Seit diesem Gespräch weiß ich mehr über meine Lieblingsfrucht und ihr Gedeihen

Hier endet heute meine Etappe. Apropos Götter: was für eine großartige Fügung, dass meine Übernachtung heute bei der „Eisernen Hand“ ist. Wieder mitten im Wald und herrlich kühl UND gerade mal 500 Meter vom Merkurtempel entfernt.

Ehrensache, dass ich meinen Abendspaziergang dorthin mache. Und es ist ein wirklich besonderer Ort. Die Ruine eines römischen Tempels, in dem sie nicht nur Merkur, sonder auch die gallische Göttin Rosmerta einst verehrten. An den Überresten des einstigen Altars sind scheußliche Spuren eines modernen Plastik-Schamanismus zu erkennen. Ich räume auf und übergebe Kirschen und Walderdbeeren an die guten Geister.

Merkur und Rosmerta – hier wurde ihnen gehuldigt

Heute hat sich alles gefügt. Manche Wege nicht gemacht, manchen Umweg gemacht und am Ende genau am gewünschten Ziel angekommen. Wünschen muss man können. Danke und Gute Nacht.

Tag 16: Eiserne Hand – Boppard

Heute entscheide ich mich ganz kühn, der Waldeskühle wegen den Eifel-Camino zu gehen und nicht dem Linksrheinischen Jakobsweg zu folgen. Eine sehr gute Entscheidung. Der weite Blick über dieses unberührte Eifelgebiet lässt tief atmen. Weitere Liederfetzen aus vergangen Tagen schweben durch mein Hirn oder aus meinen Seelentiefen und ich bekomme langsam das Gefühl, dass da bunte, wohlklingende und sattfarbene Puzzleteile zusammenkommen.

Da ist sie, die Eiserne Hand im Morgenlicht.

Durch den Wald nähere ich mich quasi von hinten wieder dem bezaubernden Mittleren Rheintal, passiere dabei erst einen ausgewiesenen Hexentanzplatz und dann stehe ich vor der Engelseiche. Engel, wegen Engelbert Humperdinck, der hier oben wohl seine kreativen Inspirations-Spaziergänge machte, um die Ideen dann unten in deiner Villa in Boppart niederzuschreiben. Es ist völlig stimmig, dass einer hier auf die Idee kommt, um Hänsel und Gretel eine Oper zu komponieren, die ich persönlich nie recht mochte, außer: „Den Abendsegen“, er wird also spontan „Lied der Tages“, gesungen unter der Eiche.

Keine weiteren Worte nötig

Und dann geht es an die steilabfallende Rheintalkante. Zwei wunderbar gelegene Biergärten schenken unfassbar schöne Ausblicke auf diesen von mir so selig neu entdeckten Landstrich. Krönung des Ganzen: Mit einem sensationell langsamen Sessellift gondle ich in die Tiefen, wäre vielleicht doppelt so schnell gelaufen, hätte in der gellenden Sonne aber mindestens doppelt so viel geschwitzt. Und ehrlich, bei diesem Wetter permanent in Bewegung und dem Wetter ausgesetzt, ist es eine Herausforderung, wirklich immer genügend zu trinken. Am besten auch keinen Alkohol.

Verrückt, was für Schleifen sich Mutter Natur hier für Vater Rhein ausgedacht hat

Zum Abend geht es direkt an den guten alten Vater Rhein, der hier einen ruhigen Abzweig hat. Und ich schwimme, zum ersten Mal schwimme ich richtig im Rhein, irgendwie erhebend. Ganz hinten erahne ich die Loreley, die es morgen zu erkunden gilt und bin im Glück.

Hurra,

Tag 17: Sankt Goar – Oberwesel

Sankt Goar ist also der Ausgangspunkt meiner heutigen Etappe. Ich erfahre, das der Heilige Goar ein Bettelmönch war, der hier einst in einer Höhle lebte und sich um die Schiffer gekümmert hat. Dringend nötig, gegenüber der Loreley!

Wie schnell, wie steil, wie hoch, wie schön!

Ich weiß, ich wiederhole mich, aber diese Gegend ist so schön! Die Etappe zeigt wieder die schönsten Aussichten. Aber eben auch die schmerzlichen Schäden, die die Natur, der Wald hier genommen hat. Ich lese ein Aufklärungsschild im Thomasbachtal „Schäden, die der Klimawandel verursacht hat“ Falsch! Es sind Schäden, die der Mensch verursacht hat, weil sein Verhalten den Klimawandel befeuert hat. Löblich, dass die Aufmerksamkeit gerichtet werden soll, aber bitte auch das Verantwortungsbewusstsein.

Wünschend glücklich

Am Wunschwasser-Wasserfall führt der Weg vorbei, unter dem ich mir noch eine schöne Abkühlung gönne, bevor es dann hoch und steil hinauf geht zu Marias Ruh – „und die Loreley schaut zu“ – so steht es auf dem Eingangsschild zur Gastronomie, und richtig: Der Blick fällt hier von oben auf die Felsnase der Loreley und natürlich wir hier, von diesem erhabenen Platz aus, den drei Vätern des berühmten Loreleyliedes gedacht:

Dank an die drei Herren

Brentano, Heine und Silcher. Prompt hebe ich zum Lied des Tages an, na, welches wohl?

Kleine Randnotiz: Natürlich kommt es vor, in freier Natur einmal austreten zu müssen. Und ehrlich ich gebe mir immer größte Mühe, wirklich tief im Unterholz zu verschwinden und keine Spuren zu hinterlassen, also Mulde graben, alles versenken und Mulde zuschaufeln. Hinter Marias Ruh waren an meinem anvisierten Stillen Örtchen schon andere zugange, Grabwespen … das Gute an der Sache ist, ich weiß jetzt sicher, dass ich gegen Wespengift NICHT allergisch bin.

In Niederwesel führe ich ein reizendes Gespräch mit der Dame vom Gemeindebüro, sie schickt mich zur Marienkirche. Auf dem Weg erfahre ich von der einstigen Werner-Kapelle, die hier in Niederwesel kurzerhand umgetauft wurde, nachdem eben jenem Werner offiziell der Heiligenstatus abgenommen wurde.

Steiler Treppenaufstieg zur Kirche in Oberwesel

Diese ganze Geschichte ist ein wichtiges Mahnmal gegen jede Form von Antisemitismus. Jener Werner kam einst wie auch immer zu Tode, und aus dem Nichts heraus und völlig haltlos wurde behauptet, Juden hätten ihn umgebracht, was prompt furchtbare Folgen hatte. Und nun hat es hunderte von Jahren gedauert, diese auf falschen Behauptungen basierende Scheinheiligkeit aufzulösen. In Niederwesel also einfach durch Umbenennung. Das stimmt mich sehr nachdenklich. Im Nachbarort Bacharach gehen sie damit anders um, mehr dazu morgen.

Diesen Türschlüssel kann man nicht so leicht verschlampern

Ich habe Glück und komme genau rechtzeitig zur imposanten Marienkirche. Der Schlüssel, mit dem die reizende Dame das Gotteshaus aufschließt, ist riesig, wie sich das gehört. Die Akustik in der Kirche ist wunderbar. So leicht trägt die Stimme, fliegt sanft hinauf in die Kuppel.

Ja, da war was … die Frage nach der Stimme und der Bestimmung …

Tag 18: Bacharach – Bingen

Heute ist, glaube ich, der heißeste Tag meiner bisherigen Tour. 37 Grad sollen es werden. Also beschließe ich, diese Etappe etwas zu vereinfachen, also den Temperaturen anzupassen. Richtig los geht in Bacharach, einem wirklich bezaubernden Städtchen. Dass hier auch schon die Römer waren, ahnt man. So viele uralte Inschriften an den Häusern zeugen von einer grundsätzlichen Redlichkeit – meine ich zumindest da heraus zu lesen.

Ach, Bacharach! Was bist du zauberhaft

 

Die Dame bei der Tourist-Information kredenzt mir nicht nur den Stempel in meinen Pilgerausweis, wir unterhalten uns fein. Ja, die Begegnungen sind immer wieder bemerkenswert. Ich besichtige und besinge die Kirchen St. Peter und St. Joseph und trotz der wirklich sengenden Hitze beschließe ich, zur hiesigen Wernerkappele hochzusteigen. Die Oberschenkel brennen.

Aber was ich dann zu sehen bekomme, macht alle Mühe wett. Hier in Bacharach kannten sie auch die Legende um jenen Werner, hier wurde aber nicht einfach umbenannt, Geschichte vertuscht und fein ist … nein. Hier steht diese Kapelle quasi als skelettiertes Mahnmal und fordert unmisverständlich zur Toleranz unter den Religionen auf.

Werner-Kapellen-Skelett. Lasst uns miteinander reden.

Und wieder einmal gellt in mir die Frage: warum gerade unter diesen drei abrahamitischen Religionen soviel Gräueltaten unter dem Deckmantel des einzig Wahren geschehen sind und nach wie vor geschehen. Wann werden wir endlich verstehen und leben, dass es einzig und allein ums Menschsein geht, weder Frau noch Mann, egal welche Hautfarbe, Konfession, Konfektionsgröße, sexuelle Orientierung, Kontostand, etc. Mehr noch: Wesen sein, neben Pflanzen und Tieren. Mensch, werde wesentlich!

Mit diesen Gedanken besteige ich den Dampfer und genieße diesen letzten Abschnitt dieser wunderschönen Mitteleren Rhein-Gegend vom Wasser aus. Und einmal mehr beglückwünsche ich mich zu meiner Entscheidung, dieses Land, in dem ich lebe, zu Fuß oder eben vom Wasser aus zu erkunden, um all die feinen Veränderungen zu sehen.

Eine Schifffahrt, die ist lustig, eine Schifffahrt, die ist kühl

In Bingen kocht der Asphalt. Der Eiskaffee vom Kiosk direkt an der Landungsbrücke ist wirklich köstlich und kühlt exakt die paar Meter bis zum Museum am Strom, ehemaliges Elektrizitätswerk, in dessen schönem Gemäuer heute unterschiedliche Themenfelder ausgestellt werden, vor allem Hildegard, die Heilige von Bingen.

Die sich über zwei Stockwerke entwickelnde Ausstellung zeigt sowohl die historische Hildegard, setzt also Faktisches dem Überlieferten im zeitlichen Kontext gegenüber. Aber auch die Mystikerin, die Visionärin, die Profetin wird gezeigt, und im Außenbereich befindet sich natürlich auch ein mühsam bewässerter Schaugarten ihrer bevorzugten und von ihr beschriebenen Pflanzen.

Museums- Infoblatt und eine Postkarte mit Hildegards Vision von den Chören der Engel

Ich war vor einigen Jahren schon einmal auf der Durchreise hier. Jetzt auf meinem Pilgerweg fallen einige Informationen, Inhalte und Inspirationen auf ganz anderen Boden. Wieder muss ich feststellen, dass diese Jakobs-Pilgerei wirkt. Ich hatte mir nicht gezielt vorgenommen, mich auf einen spirituell- religiösen Weg zu machen. Der Jakobsweg bot sich als perfekt verlaufende Wegverbindung einfach an.

Jetzt sehe ich das anders und singe in der angenehm kühlen Kirche.

Der Weg zur traumhaft gelegenen Jugendherberge ist wirklich beschwerlich, weil nahezu unerträglich heiß. Was bin ich froh, so nett hier empfangen zu werden, direkt in mein Zimmer zu kippen und am Abend, quasi vom Logenplatz aus, das lang ersehnte und sehr knapp ausfallende Unwetter zu bewundern.

Der Blick – unbezahlbar! Diese JuHe lässt wirklich gar nichts zu wünschen übrig

Etliche große Spinnen kommen zur Dämmerung aus irgendwelchen Mauerritzen gekrabbelt. Ich lasse sie bereitwillig ihre Netze vor meinem Fenster spinnen, so bewahren sie mich vor den Mücken, die es hier in unmittelbarer Wassernähe zwischen Rhein und Nahe natürlich gibt.

Mit dem Bild vom beschützend gesponnenen Netz, in dem ein Faden von A nach B und immer weiter geführt wird, auf dass ein engmaschiges Feld entsteht, schlafe ich früh ein und spüre genau, dass jetzt eigentlich schon dringend Ruhetags-Zeit wäre, hätte, sollte, wollte …

Tag 19: Bingen – Appenheim

Es gibt wirklich kaum etwas Erfrischerenderes, als in einer Jugendherberge zu übernachten, wenn man KEINERLEI Verantwortung für irgendjemand anderes trägt, als sich selbst. Herrlich zu beobachten, wie sich diese meist recht unausgeschlafene Jugend das Frühstück der Wahl drapiert. Nussnougatcreme ist der Schlager! Und natürlich gibt es dennobligaten Früchtetee und das TriTop-ähnliche Orangengetränk, wunderbar. Meine Sonne scheint schon wieder.

Wunderbare Erinnerungen an die eigene Vergangenheit, als Mädchen und als junge Mutter

Heute verlasse ich also mit gewissem Wehmut den Linksrheinischen Jakobsweg. Es war wirklich ein ganz besonders schönes Erleben entlang dieses sagenumwobenen Stroms durch tiefe Kluften und strahlende Höhen zu pilgern. All die Orte, deren Namen einem oft doch nur vom Autobahnabfahrtsschild her bekannt vorkommen, nun zu ergehen.

Eine besondere Überraschung erwartet mich obendrein. Kurzerhand bekomme ich Besuch von einer lieben Bekannten, die quasi um die Ecke wohnt. Sie kommt mir ihrem kleinen Flitzeauto angebraust, packt mich ein und dann genießen wir zwei ihr liebevoll eingepacktes, zweites Frühstück samt Croissant, Kaffee und Tee direkt am Beckenrand des wunderschönen Naturfreibades Bingen, quasi über meiner Jugendherberge gelegen.

Steffi, du bist ein Schatz

Ein sehr schönes und kühlendes Intermezzo. Dann geht es für mich schon wieder raus aus der Stadt, ab auf die Weinfelder. Richtig Felder sind es. Vorbei sind die von der Sonne verbrannten Steilhänge am Rheinufer (mir wurde versichert, dass sich auch diese Rebstöcke allesamt wieder erholen, wenn sie älter als 8 Jahre sind. Dann reichen ihre Wurzeln nämlich tief genug, um noch ausreichend mit Wasser versorgt zu sein.

Ja, ein gewisses Alter und das Entwickeln von gesunden Wurzeln kann sehr hilfreich, sogar überlebensnotwendig sein.

Ich komme am ehemaligen Kloster auf dem Jakobsberg vorbei, das heute ein Bildungshaus ist und nach wie vor traumhaft schön liegt. Weiter geht es über den Laurenziberg gen Appenheim. Bei der zweiten Mühle, dem Lokal „1000 Gulden Mühle“ bekomme ich mit größter Sorgfalt einen Stempel in meinen Pilgerpass verpasst. Am, an der Außenwand lehnenden, alten Mühlstein überkommt mich der Impuls zum Lied des Tages: In einem kühlen Grunde (eben auch wieder auf Instagram oder Facebook zu finden).

Jetzt verlasse ich das Rheinufer – bis Worms

Kühl war der Tag wahrlich nicht. Mein Tagesziel erreiche ich im hübschen Winzerhof Schmitt. Als ich nach der dringend nötigen Dusche noch etwas zu Abend essen möchte, stelle ich fest, dass es in der für mich heute noch fußläufig erreichbaren Gegend kein geöffnetes Gastlokal gibt. An der Ecke steht ein öffentlicher Kühlschrank, bestens bestückt mit Kirschen und Abrikosen. Ratet mal, was mein Abendessen wurde?

Und ich habe mich noch gefragt: Was ist dran, an der alten Mähr, dass man auf zuviel gegessene Kirschen kein großes Glas Wasser trinken sollte, wegen drohender Bauchschmerzen.

Frei nach Modern Talking: Kirsche, Kirsche, Dame

Gut, von Schmerzen kann wahrlich nicht die Rede sein, aber ein knappes Pfund kühlschrankkalte Kirschen und ein halber Liter Wasser haben meinem Magen über Nacht nicht ganz so gut gefallen; mache ich beim nächsten mal anders.

Tag 20: Pausentag in Appenheim

Das Frühstück im Innenhof ist wirklich vorzüglich. Nette Gespräche zwischen dem Winzer-Ehepaar Schmitt und uns unterschiedlichen Gästen entspinnen sich. Ich bin ehrlich froh, dass heute keine körperliche Anstrengung ansteht. Voll und ganz widme ich mich also dem Durchforsten meines Tagebuchs, dem Sortieren meiner ergänzenden Erinnerungen und bin froh, dies alles jetzt, da es noch so frisch durch mein Gemüt weht, niederzuschreiben.

Außerdem erfreue ich mich am Anblick meines bunt bestempelten Pilgerausweises. Ich wollte mir ja anfangs, in der Vorbereitungsphase, gar keinen besorgen, dachte, das brauch ich eh nicht. Und wurde eines Besseren belehrt: nicht nur, dass genau und nur dieser Ausweis mir einige Übernachtungen ermöglicht hat, er bestätigt mir auf eine besondere Weise, welchen Weg ich bereits gegangen bin.

Ohne Worte

Habe gerade wieder eine Nachricht einer Leserin meines Blogs erhalten, welche Inhalte oder welche Anteile meiner beschriebenen Reise sie persönlich ansprechen. Und das ist genau das Schöne: wenn wir uns durch unser Erleben miteinander verbinden können, austauschen können.

Ich denke an die Spinnen vor dem Bingener Jugendherbergsfenster und freue mich, wenn ich die eine oder den anderen ein Stück mit auf die Reise nehmen kann, oder eben zur eigenen Reise anregen kann.

Mal sehen, was ich heute zum Abendessen finde.

Morgen geht es dann weiter, zwei, drei Tage lang in Richtung Worms.

 

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